Nachricht

28.10.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 240

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

Worte eines bekannten Politikers eröffnen die heutige Ausgabe: "Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.", "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?" und "Ich bin, wie ich bin... Die einen kennen mich, die anderen können mich..." - alle Zitate werden dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zugeschrieben: Konrad Adenauer. Bei unserem heutigen Musikstück, Béla Bartóks Ballett "Der wunderbare Mandarin", hat er eine nicht unwichtige Rolle gespielt.

Sex and Crime - das war es, was seinerzeit Publikum, Kritiker und sogar Politiker an Bartóks Ballett "Der wunderbare Mandarin" so sehr schockierte, dass das Stück sofort nach der Uraufführung wieder abgesetzt wurde. Denn keine schillernde Exotik verbirgt sich hinter diesem Titel, sondern ein brutales Morddrama in absolut trostloser Umgebung, von Bartók ganz drastisch in Musik gesetzt. Es ging ihm um die "Hässlichkeit und Widerlichkeit der zivilisierten Welt", wie er selbst sagte.

Eine hektische, trostlose, heruntergekommene Großstadt, das zwielichtige Milieu von Kriminellen, Zuhältern und Prostituierten, ein schonungslos gezeigter, brutaler Mord. Dazu eine radikale, verstörende und genauso schonungslose Musik. Bei der Uraufführung 1926 an der Oper Köln löste "Der wunderbare Mandarin" einen regelrechten Theaterskandal aus. Türenknallen, Pfiffe, Pfui-Rufe und ein Verriss in der Presse. Der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer ließ Bartóks Ballett sofort wieder vom Spielplan nehmen. Das allgemeine Urteil: unsittlich, ja pervers!

Schon der anfängliche Straßenlärm, den Bartók kunstvoll und naturalistisch zugleich in harsche Dissonanzen verpackt, verstört und stört im besten Wortsinn alle beschaulichen Erwartungen an Kunst als hehrer Charakterbildnerin oder schönem Bürgerzeitvertreib. Der expressionistische Schriftsteller Menyhért Lengyel, ein Landsmann Bartóks, hat ein großstädtisches "Sittenbild" entworfen, das "unsittlicher" kaum sein könnte: Drei Gauner zwingen ein Mädchen, Männer in ihre ärmliche Vorstadtbehausung zu locken, wo sie ausgeraubt werden. Nach zwei unergiebigen Freiern betritt ein reicher Chinese die Stube. Während ihres ängstlich vorgetragenen Tanzes vor dem eigenartigen Fremden stürzen die Gauner hervor, rauben ihn aus, versuchen ihn zu ersticken und zu erstechen und hängen ihn schließlich auf - vergebens, der Mandarin lässt den Blick nicht von seiner Geliebten. Erst als diese sich ihm hingibt, stirbt er.
 

Bartóks geradezu revolutionäre, avantgardistische, mit Strawinskys Ballett "Le Sacre du Printemps" durchaus vergleichbare Tonsprache hat rund 100 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrer Schroffheit und fratzenhaften Gestik verloren - vor allem das grelle Blech darf (und muss) kräftig jeden Schönklang zerschneiden. Bartók schreibt den "Wunderbaren Mandarin" noch in Ungarn, zu einer Zeit, als die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie gerade zu Ende geht. In jeglicher Hinsicht möchte er in diesem Stück jedoch etwas darstellen, das wider die Natur ist: die Großstadt als Sinnbild für etwas Abweisendes und Degeneriertes. Genau dies wird Bartók später in den amerikanischen Metropolen als Emigrant selbst erleben. So ist dieses Ballett, dessen Uraufführung so schockierend wirkte, in doppelter Hinsicht ein Werk, das in die Zukunft weist: musikalisch, aber auch menschlich.


Drei Aufführungen möchte ich Ihnen heute empfehlen - zunächst "Mandarin light" - die Suite aus Bartóks "Der wunderbare Mandarin", 1986 aufgezeichnet in der Londoner Royal Albert Hall, es spielt das London Symphony Orchestra unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten Claudio Abbado:


www.youtube.com/watch

Die vollständige Ballettmusik stand mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Pierre Boulez am 30. August 1992 bei den Salzburger Festspielen im Großen Festspielhaus auf dem Programm:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch eine Ballettaufführung mit dem Ballet National de l'Opéra du Rhin und der Choreographie von Lucinda Childs; es spielt das Orchestre National des Pays de la Loire unter der Leitung von Daniel Kawka:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler