Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
am 21. Oktober 2000 habe ich ungeplant ein Werk kennengelernt, das mich tief beeindruckt hat: "Styx", ein Requiem für Viola, Chor und Orchester von Giya Kancheli.
Am Nachmittag dieses Tages hatte ich eine "Jedermann"-Aufführung im Berliner Dom besucht. Brigitte Grothum inszenierte dieses Stück über viele Jahre dort mit zahlreichen prominenten Schauspielern - von Peter Sattmann über Wolfgang Gruner bis hin zu Brigitte Mira, die zur Vorstellung direkt aus dem Krankenhaus kam, reichte die Bandbreite. Spontan hatte ich mich anschließend noch entschlossen, am Abend in das Konzert der Berliner Philharmoniker zu gehen, das erstaunlicherweise noch nicht ausverkauft war. Valéry Gergiev dirigierte Tschaikowskys fünfte Sinfonie - das war der Hauptanlass für den Konzertbesuch. Aber noch beeindruckender war der erste Teil: Die deutsche Erstaufführung von Giya Kanchelis "Styx". Einige Werke dieses Komponisten hatte ich bereits durch Konzerte mit dem Geiger Gidon Kremer kennengelernt und war neugierig auf dieses neue Werk.
Der 2019 verstorbene georgische Komponist Giya Kancheli gehörte zu den wichtigsten musikalischen Stimmen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Ausgebildet am Konservatorium seiner Heimatstadt Tbilissi, schuf er ein umfangreiches und stilistisch vielfältiges Gesamtwerk, das sowohl sieben Sinfonien als auch Filmmusiken und Bühnenwerke umfasst. Ein besonderer Fokus liegt auf Kompositionen für Soloinstrumente und Orchester. In den meisten Fällen handelt es sich nicht um Konzerte, in denen die Virtuosität des Solisten im Mittelpunkt steht, sondern um Stücke, in denen das Soloinstrument eher in der Art eines Vorsängers in einen Dialog mit dem Chor (im Sinne der griechischen Tragödie) tritt. Dieser wird entweder vom Orchester oder tatsächlich von einem Vokalpart gebildet.
So ist es auch in "Styx", das 1999 für den Bratscher Yuri Bashmet entstand und ihm gewidmet ist. Darüber hinaus tauchen im Text des umfangreichen Chorparts die Namen von Alfred Schnittke und Avet Terterjan auf. Das Stück ist mithin auch ein Requiem, eine Klage um diese beiden 1998 und 1994 verstorbenen Komponisten, mit denen Kancheli befreundet war. Ein Blick auf den Text des Chorparts verrät zweierlei: Zum einen, dass es sich um eine Reflexion über den Tod aus religiöser Perspektive handelt. Zum anderen, dass "Styx" nicht auf einem Gedicht basiert, sondern auf frei assoziativ aneinander gefügten Textfragmenten, bestehend aus formelhaften religiösen Wendungen, Naturphänomenen, Namen von Klöstern und Kirchen, Personen oder georgischen Volksliedern. Am Ende steht ein Teil in englischer Sprache, der sich auf den Monolog der "Zeit" in Shakespeares Wintermärchen bezieht.
Die Klangsprache des Stückes ist typisch für Kancheli. Äußerst ruhig entfaltet er den Klang in einer durch Zusatztöne leicht geschärften Tonalität; unterstützt durch eine kleinschrittige Melodik aus wenigen Tönen erhält die Musik einen archaischen Charakter. Immer wieder etablieren sich Zwiegespräche zwischen dem Soloinstrument und entweder dem Chor oder dem Orchester. Auf lange dynamische Prozesse folgen Momente der Stille. Letztlich geht es, wie der Titel verrät - der Name des Flusses, der die Welt der Lebenden von jener der Toten trennt - um ein "Hinübergehen" der Seele ins Jenseits. Am Ende steht die Verklärung, die in einer heiter gelösten Musik, in der sich Volksmusikelemente finden, nach der letzten, intensivsten Steigerung greifbar wird. Der sich anschließende, rhythmisch akzentuierte Teil mit englischem Text wirkt zunächst wie ein triumphaler Schlusschor in der abendländischen Oratorientradition. Am Ende aber wird diese Assoziation gebrochen.
Die Aufführung in der Berliner Philharmonie war großartig, mit Yuri Bashmet stand auch der Solist der Uraufführung zur Verfügung, und sowohl die Berliner Philharmoniker als auch der Rundfunkchor Berlin konnten ein weiteres Werk auf ihre lange Repertoireliste setzen.
Dieses Konzert sollte aber auch noch ein Nachspiel für mich haben. In meiner Braunschweiger Zeit als Kirchenmusiker an St. Johannis haben die damaligen Braunschweiger Konzertchöre diesen Kirchenraum gerne als Ort für ihre Konzerte genutzt. Als der Sine Nomine Chor wieder einmal mit einem Konzert gastieren wollte, stand zu meiner großen Überraschung auch dieses Werk auf dem Programm. Die damalige Chorleiterin Agnes Kauer war immer auf der Suche nach neuen, spannenden Werken - und tatsächlich hat sie dieses Stück am 23. März 2003 dort aufgeführt. Damals konnte ich den Klavier- und Cembalopart im Orchester mitspielen - ein für mich bis heute denkwürdiges Konzert. Dass ich diesen Chor ab 2009 dann selbst für sieben Jahre leiten würde, hatte ich mir damals nicht träumen lassen.
Der heute Konzertlink stammt vom 16. Januar 2018, Maxim Rysanov (Viola) musiziert gemeinsam mit dem Chor und Orchester der St. Petersburger Philharmonie unter der Leitung von Vladimir Altschuler:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler