Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
die Viola (oder auch Bratsche) steht als Solo-Instrument eher im Schatten ihrer weitaus gefragteren "Kollegen" Violine und Violoncello. Doch mit dem heutigen Musikstück ist das Scheinwerferlicht auf sie gerichtet: "Harold en Italie" op. 16 von Hector Berlioz.
Berlioz hatte 1830 den „Prix de Rome“ erhalten, verbunden mit einem Studienaufenthalt in der Villa Medici, den er 1831 missmutig absolvierte - Rom war für ihn eine Stadt des Stillstands im Gegensatz zu „seinem“ modernen Paris. 1834 entstand jedoch als Italien-Reminiszenz sowie inspiriert durch Lord Byrons Versepos „Childe Harold’s Pilgrimage“ die Sinfonie mit Solo-Bratsche „Harold en Italie“.
Der britische Dichter Lord Byron hatte zwischen 1812 und 1818 sein Versepos vorgelegt und damit das Bild des Prototyps der romantischen Lebensform entworfen. Ein junger Mann reist durch Europa, doch im Zentrum stehen nicht die Landschaften, Menschen und Ereignisse, sondern das, was sie beim Reisenden auslösen, es geht um subjektives Erleben, um Melancholie und Weltschmerz, um die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Zum Schluss gelangt Harold nach Rom, dessen Ruinen Anlass zum Sinnieren über die Vergänglichkeit geben. Gerade diese inneren Welten eines Antihelden und Außenseiters waren es, die Berlioz besonders interessierten, in der Isolation eines melancholischen und reflektierenden Menschen erkannte er sich selbst.
Der einsame Held in seiner Umgebung: Diese Grundkonstellation spiegelt sich auch in der Sinfonie „Harold en Italie“ wider, die Berlioz schließlich in der Besetzung für Orchester und Solo-Bratsche konzipierte. Grob vereinfacht ist es vor allem das Orchester, das für italienisches Kolorit sorgt und die Außenwelt zum Ausdruck bringt, auch - besonders eindrücklich im vierten Satz - ihre ganze Hässlichkeit und Brutalität. Das beobachtende und reagierende Individuum wird hingegen insbesondere durch die Solo-Bratsche repräsentiert. Harold ist ein markantes Signet zugewiesen, eine sogenannte „idée fixe“, ein für Berlioz typisches Leitmotiv, das die gesamte Sinfonie prägt. Mit ihr stellt sich die Solo-Bratsche im einleitenden Adagio vor, im zweiten Satz wird sie ins Zentrum des ersten Teils gerückt, im dritten Satz findet sie sich im Mittelteil und im Finale noch einmal als eine von mehreren nostalgischen Reminiszenzen des Helden an früher Erlebtes, bevor das Orchester mit Gewalt das Kommando übernimmt. Wanderungen durch die Abruzzen, Erinnerungen an Madonnenkapellen, die hohe Hügel krönen (2. Satz) und die einfache Musik des ländlichen Volks, mal sanft als Serenade, mal heiter nach Art eines Saltarellos (3. Satz), haben ihre Abdrücke in der Sinfonie hinterlassen.
Berlioz‘ Harold entstand als Auftragskomposition für den Teufelsgeiger Niccolò Paganini, der damit auch als Bratschist brillieren wollte. Dass mit der Konstellation von Berlioz' Harold kein konventionelles Bratschenkonzert einhergehen kann, welches dem Solisten Raum gibt, mit virtuosen Passagen zu glänzen, versteht sich angesichts der Gesamtkonzeption fast schon von selbst. Derartiges hatte aber offenbar Niccolò Paganini erwartet. Nachdem er den ersten Satz kennenlernte, soll der Geiger ausgerufen haben: „Zu viele Pausen! Ich muss immerfort zu spielen haben!“ Mit dem künstlerischen Anspruch Berlioz’ und der Kernidee des Werkes ließ sich diese Anforderung wahrlich nicht verbinden, zu einer Aufführung mit Paganini kam es nicht - er schrieb sich schließlich lieber selbst ein virtuoses Bratschenkonzert auf den Leib.
Die vier Sätze von "Harold en Italie" op. 16:
1. Satz: Harold in den Bergen. Szenen der Melancholie, des Glücks und der Freude
2. Satz: Marsch der Pilger, die das Abendgebet singen
3. Satz: Abendliches Ständchen eines Abruzzen-Gebirglers an seine Geliebte
4. Satz: Gelage der Räuber. Erinnerungen an vergangene Szenen
Das Werk stand auf dem Programm des Eröffnungskonzerts vom Rheingau Musik Festival 2018 und wurde am 24. Juni im Kloster Eberbach aufgezeichnet. Es musizieren Antoine Tamestit und das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Eliahu Inbal:
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