Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
in dieser Reihe entdeckt auch der Autor hin und wieder noch neue Stücke: Durch Folge 248, in der u. a. der Pianist Mikhail Pletnev vertreten war, bin ich auf unser heutiges Musikstück gestoßen: Die Jazz-Suite für Klavier und Orchester von Alexander Tsfasman.
Alexander Tsfasman (1906 - 1971) war ein russischer Jazz-Bandleader, Komponist und Pianist. Er zählte zu den Pionieren des Jazz in der Sowjetunion, war mit seiner Band zeitweilig ein bedeutender Star der sowjetischen Unterhaltungsmusik und einer der populärsten Jazzmusiker der 1920er bis 1940er Jahre.
Tsfasman wuchs in Nischni Nowgorod in einer jüdischen Familie auf; im Alter von sieben Jahren lernte er Violine und Klavier an der dortigen Musikschule. Er studierte später am Moskauer Konservatorium bei dem Pädagogen Felix Blumenfeld; 1926 gründete er das Ensemble AMA Jazz, die erste große Jazzformation in Moskau. Die Band trat im Club Eremitage, in Restaurants und in großen Kinos auf. 1927 entstanden erste Radioaufnahmen, kurz danach erste Schallplatten-Einspielungen - es sind die ersten Jazz-Dokumente der UdSSR schlechthin. Neben den Engagements mit seiner Band trat Tsfasman als Solo-Pianist auf und schuf außerdem eine Reihe von kleineren Werken, wie die Ballett-Suite "Rot-Front" für Orchester (1931), ein Konzert für Klavier und Jazz-Orchester (1941), ein Benny Goodman gewidmetes Intermezzo für Klarinette und Big Band (1944); außerdem schrieb er Theater- und Filmmusiken. Seine Kompositionen sind stark von George Gershwin beeinflusst; 1946 besorgte er auch einer der ersten Aufführungen der Rhapsody in Blue in der UdSSR. 1951 erhielt er Gelegenheit, bei einem neuen Klavierkonzert von Dmitri Schostakowitsch als Solist mitzuwirken.
Tsfasman war ein Vorreiter auf dem Gebiet des sowjetischen Jazz; er war der erste Solist und der erste Russe, der die neue Musik hauptberuflich ausübte. Neben der AMA-Band leitete Tsfasman in seiner Karriere bis 1952 insgesamt sechs Bands wie die Dreizehn Virtuosen (1933- 937) und das Jazz-Orchester des Rundfunkkomitees der UdSSR (1939-1946). Zum Schluss leitete Tsfasman ein großes Orchester in der Art des Glenn Miller Orchesters. In seinem Klavierspiel orientierte er sich am Stride Piano Stil eines James P. Johnson oder an Fats Waller; später in den Nachkriegsjahren verarbeitete er auch Einflüsse von Art Tatum und Count Basie.
Mit dem Beginn des Kalten Krieges änderte sich die Kulturpolitik. Im Sommer 1946, im Zuge des Kampfes gegen den westlichen Einfluss, wurde Tsfasman seines Orchesters beraubt, ein Jahr später wurde das Orchester aufgelöst. Die Erfahrungen mit der sowjetischen Kulturbürokratie haben ihn verbittern lassen: 1957 antwortete er auf die Frage, ob er ein neues Orchester plane: „Ich bin alt. Ich habe einen guten Verdienst, eine Datscha auf dem Lande, eine Frau und einen Wagen. Der Komponistenverband verlangt von mir nur, dass ich ihr jeden Monat einen neuen Marsch, eine Polka oder einen Walzer abliefere - also was soll ich mich abrackern?“
In den späten 1950er und 1960er Jahren schrieb Tsfasman gelegentlich Jazzsongs, trat als Pianist, Musikkritiker, Publizist und Jury-Mitglied auf, zog sich aber mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück.
Hier folgt nun die angekündigte Jazz-Suite für Klavier und Orchester, der Mitschnitt entstand 2013 anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Verbier-Musikfestivals, Mikhail Pletnev wird begleitet vom Verbier Festival Orchestra unter der Leitung von Kent Nagano:
Zum Vergleich: Die Jazz-Suite in der Fassung für Klavier zu vier Händen, aufgezeichnet in der Pariser Cité de la Musique. Xavier Aymonod, Cyril Porra, Julien Kurtz
und Hannah Moatti teilen untereinander die vier Sätze auf: Snowflakes - Lyrical Waltz - Polka - Fast movement:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Berlin
Matthias Wengler