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19.11.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 250

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

die 250. Ausgabe dieser Reihe fällt genau auf das Wochenende zum Ewigkeits- bzw. Totensonntag. Meine Wahl fällt daher auf eines der wichtigsten Musikstücke des 20. Jahrhunderts: Das War Requiem von Benjamin Britten.


„Unternehmen Mondscheinsonate” heißt zynischerweise der Luftangriff, bei dem deutsche Bomber die Stadt Coventry in der Nacht des 14. November 1940 mit rund 

30.000 Brandbomben, etwa 500 Tonnen Sprengbomben und 50 Luftminen zerstören. Vom mittelalterlichen Stadtkern bleibt nur ein Trümmerfeld übrig. Auch die Kathedrale wird zerstört. Als am 30. Mai 1962 die wieder aufgebaute Kirche eingeweiht wird, erklingt erstmals das War Requiem von Benjamin Britten.

Die Struktur des War Requiems passt hervorragend zum Neubau der Kathedrale, hatte man doch beim Wiederaufbau darauf verzichtet, die zerstörte Gotik detailgetreu zu rekonstruieren. Vielmehr wurde ein moderner Neubau so an die Ruine gesetzt, dass durch eine Glaswand die Überreste des gotischen Baus sichtbar blieben. Einen ähnlich kontrastreichen Aufbau verfolgt auch Brittens rund 90-minütige Komposition: Den traditionellen, lateinischen Liturgie-Texten stellt er moderne Poesie des britischen Lyrikers Wilfred Owen gegenüber, die den Wahnsinn des Krieges thematisieren. „Diese großartigen Gedichte voller Hass auf die Zerstörungswut”, befand Britten, „sind eine Art Kommentar zum Requiem”.

Diese thematische Unterteilung spiegelt sich auch in der musikalischen Struktur der Komposition: Während der traditionelle, liturgische Text vom Chor, Knabenchor und Sopran sowie großem, sinfonischen Orchester interpretiert wird, singen Tenor und Bariton zu kammermusikalischer Begleitung die lyrischen Texte Owens, die von Verzweiflung, Ohnmacht, Angst und Hoffnungslosigkeit handeln. Beide musikalischen Sphären führt Benjamin Britten erst im letzten Satz, dem Libera Me, zusammen, der damit zum Höhepunkt des Werkes avanciert. „Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund”, singt der Bariton. In einem abschließenden, bewegenden „Let us sleep now” fließen Tenor- und Baritonstimme, die Stimmen der verfeindeten Soldaten, endlich ineinander. „Requiescant in pace. Amen”, antwortet ihnen der Chor und leitet sie ins Jenseits.

Die Zuhörer der Uraufführung reagierten erschüttert auf das War Requiem. Zu greifbar ist die Botschaft der Musik, als dass sie mit ihren fahlen bis aufschreienden Klängen nicht unmittelbar zu berühren wüsste. „Ich glaube, es ist das beeindruckendste und bewegendste Stück geistlicher Musik, das je in diesem Land komponiert wurde”, urteilte der Autor Peter Shaffer. Und der Komponist Dmitri Schostakowitsch meinte, er habe beim War Requiem eines der „großen Werke des menschlichen Geistes” gehört. Nur Igor Strawinsky stichelte und sagte: Das War Requiem in Großbritannien zu kritisieren wäre so, „als würde man versäumen, zu "God save the Queen" aufzustehen”.

Inzwischen zählt das War Requiem zu den großen sakralen Kompositionen des 20. Jahrhunderts. Benjamin Britten stellte seiner Komposition ein Zitat von Wilfred Owen voran: „Mein Thema ist der Krieg und das Leid. Die Poesie liegt im Leid...  - Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: Warnen.” Das gelingt dem War Requiem auf eine ebenso kunstvolle wie eindringliche Weise.

Vier Aufführungen stelle ich Ihnen gerne heute vor - die erste kommt aus Hannover und fand am 3. November 2018 zum Gedenken an das Ende des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren im Kuppelsaal statt. Die NDR-Radiophilharmonie veranstaltete zusammen mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra dieses Großprojekt, das
unter dem Stern der britisch-deutschen Freundschaft stand. So wurden die Chöre aus Hannover - Mädchen-, Knaben- und Bachchor sowie das Junge Vokalensemble - durch den Liverpool Cathedral Choir verstärkt. Von den drei Solisten stammen zwei, Susanne Bernhard (Sopran) und Benjamin Appl (Bariton), aus Deutschland, der Tenor Ed Lyon ist Brite. Und Chefdirigent Andrew Manze ist ohnehin ein Paradebeispiel für Musizieren ohne Grenzen.

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Brittens War Requiem bildete 1992 auch den Abschluss des Schleswig Holstein-Musikfestivals in der Lübecker St. Marienkirche. Aufführende waren Luba Orgonasova (Sopran), Anthony Rolfe Johnson (Tenor), Boje Skovhus (Bariton), der Monteverdi Choir London, der NDR-Chor, der Tölzer Knabenchor und das NDR-Sinfonieorchester unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten John Eliot Gardiner:

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Am 4. August 1964 leitete Benjamin Britten selbst gemeinsam mit Meredith Davies die Aufführung seines War Requiems in der Londoner Royal Albert Hall; die Mitwirkenden waren Heather Harper (Sorpan), Peter Pears (Tenor), Thomas Hemsley (Bariton), das Melos Ensemble, der BBC Symphony Chorus und das BBC Symphony Orchestra:

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Und zum Schluss noch ein Konzertmitschnitt der Salzburger Festspiele vom 18. August 2013 aus dem Großen Festspielhaus mit Anna Netrebko (Sopran), Ian Bostridge (Tenor), Thomas Hampson (Bariton), dem Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor sowie Coro e Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Sir Antonio Pappano:


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Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler